Ein Gesprächsabend mit Dan Diner über das Spannungsverhältnis von Anti-
Antisemitismus und Postkolonialismus
Eine öffentliche Paneldiskussion in der Katholischen Akademie in Berlin widmete
sich gestern Abend der ambivalenten Beziehung von Anti-Antisemitismus und
Postkolonialismus. Die Debatte war jüngst durch den Skandal um die Documenta
15 virulent geworden. Beide Diskurse, wie der Gastgeber Prof. Dr. Elad Lapidot
einführte, eine der Widerstand gegen Formen der Diskriminierung. Doch sei ihre
Verbindung zugleich durch Rivalität, Polemik und Antagonismus gekennzeichnet.
Dabei steht viel auf dem Spiel: das deutsche und christliche Selbstverständnis,
Positionen zum Rassismus oder auch das Verhältnis zum Judentum. Um diese
verworrene diskursive Landschaft zu kartieren, das zeigte der Gesprächsabend,
müssen die theologischen Wurzeln zeitgenössischer politischer und kultureller
Konflikte freigelegt werden. Darin besteht eines der Hauptanliegen des
interreligiösen Programmes „Kohäsion durch Konflikt“, in dessen Rahmen die
Veranstaltung stattfand.
Gastredner war der Historiker Prof. Dr. Dan Diner, der seinen Impuls unter das
Leitmotiv der „Unterscheidung“ stellte. Zugespitzt formulierte er: „Wenn Churchill
nur ein Rassist war, hat es Hitler nicht gegeben.“ Postkoloniale Bilderstürmerei, die
Churchills Leistung für die Befreiung Europas vom Hitler-Faschismus unterschlägt,
entwertet also grundlegende politische Differenzen. Aus einer
universalgeschichtlichen Position der Distanz wies Diner auf blinde Flecken des
Kolonialdiskurses hin. Wie ist beispielsweise mit dem Osmanischen Reich
umzugehen, das zugleich Vertreter des kolonisierten Orients wie kolonisierender
Eroberer war? Anhand von historischen Konstellationen zeigte Diner, wie
theologische Semantiken für das politische Kraftfeld instrumentalisiert werden. In
der Auseinandersetzung mit dem Holocaust ist hier das Motiv der „Auserwähltheit“
der Juden prominent.
Prof. Dr. Christina von Braun zeichnete unter dem Stichwort der „Verflechtung“
nach, wie etwa nationalsozialistische Kategorien der Reinheit von Blut und Rasse
semantische Vorläufer bei den spanischen Eroberern Lateinamerikas aufweisen.
Prof. Dr. Gregor Maria Hoff stellte das Verhältnis von Postkolonialismus und Anti-
Antisemitismus schließlich in einen aktuellen Kontext. Dazu beleuchtete er als
antisemitisch identifizierte Sprachcodes und Bildprogramme der zurückliegenden
Documenta-Kunstausstellung sowie die umstrittenen Thesen des postkolonialen
Philosophen Achille Mbembe, der Israel als Apartheidsstaat beschreibt.
Unter dem Strich blieb: Generalisierende Alles-mit-allem-Vergleiche verhindern
semantische Genauigkeit und historische Belastbarkeit. Es braucht
Differenzierung – und ein waches Bewusstsein für die theologischen
Unterströmungen politischer Debatten.
Weitere Informationen über das Projekt „Kohäsion durch Konflikt“ und das
Netzwerk „Religion & Demokratie“ finden Sie unten sowie auf der Webseite
Falls Sie Fragen haben, wenden Sie sich gerne an info@bohnen-pa.com.
Das Netzwerk „Religion & Demokratie“
• Katholische Akademie in Berlin
• Dialogperspektiven. Religionen und Weltanschauungen im Gespräch
(Berlin)
• Eugen-Biser-Stiftung (München)
• Zentrum Theologie Interkulturell und Studium der Religionen /
Theologische Fakultät Universität Salzburg
Mission Statement
Das Projekt „Kohäsion durch Konflikt“ widmet sich Religionen als prägenden
Kräften kultureller und normativer (Selbst-)Verständigung. Religionen inspirieren,
indem sie Transzendenzerfahrungen und Sinnerwartungen Raum geben. Sie
irritieren, wo sie in ihrer Eigensinnigkeit gestaltend in die Gesellschaft
hineinwirken und neue Blickwinkel auf öffentliche Belange anregen. Sie entfalten
ihr produktives Potenzial, wenn sie damit Deutungsressourcen freisetzen und
Orientierungsangebote in säkularen Gesellschaften bereitstellen.
Vor diesem Hintergrund fördern wir ein reflektiertes und offenes, Brüche und
Konflikte ausdrücklich anerkennendes Gespräch religiöser Akteur*innen
untereinander und mit ihrer säkularen Umwelt. Ein wichtiger Anlass des
Gespräches ist die wachsende religiös-weltanschauliche Vielfalt. Im Lichte dieser
Entwicklung dient das Projekt einer verständigungsorientierten Aushandlung
widerstreitender Deutungen des guten Lebens, identitätsstiftender
Glaubensansprüche und religionspolitischer Teilhabeforderungen. Konflikt soll als
Medium der Kohäsion fruchtbar werden. Voraussetzung dafür ist die Kultivierung
von Sprachfähigkeit und Streitkompetenz an den Schnittstellen von Religion,
Gesellschaft und Politik. Im Zielhorizont steht ein friedvolles gesellschaftliches
Miteinander.
Das „säkulare Zeitalter“ ist begleitet von einer Wiederentdeckung religiöser
Identitätskonstruktionen, Denkfiguren und Handlungsimpulse. Damit verbunden
sind gesellschaftliche Reibungen. Ein Schlüssel zu deren produktiver Wendung
liegt gerade in der vertieften Auseinandersetzung mit religiösen Traditionen.
Deswegen braucht es vermittelnde Akteur*innen, die alltagsbezogene religiöse
Probleme erkennen und entschärfen können. Im Bewusstsein der Sackgassen
und unbewältigten Konflikte des interreligiösen Dialoges schaffen wir konkrete
Dialogformate, um Vorurteile zu erfassen. Verständigung erwächst aus der Arbeit
an geteilten gesellschaftspolitischen Herausforderungen in unserer säkular-
pluralen Welt. Die Vielfalt religiöser Selbst-, Welt- und Gottesbezüge bedeutet
dabei ein Versprechen; sie vermag den Blick und die Akzeptanz für
gesellschaftliche Differenz zu schulen – und damit die demokratische Kultur zu
stärken.
Komentáře