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Theologische Glutkerne politischer Problemlagen

Aktualisiert: 16. Jan. 2023


Ein Gesprächsabend mit Dan Diner über das Spannungsverhältnis von Anti-

Antisemitismus und Postkolonialismus



Eine öffentliche Paneldiskussion in der Katholischen Akademie in Berlin widmete

sich gestern Abend der ambivalenten Beziehung von Anti-Antisemitismus und

Postkolonialismus. Die Debatte war jüngst durch den Skandal um die Documenta

15 virulent geworden. Beide Diskurse, wie der Gastgeber Prof. Dr. Elad Lapidot

einführte, eine der Widerstand gegen Formen der Diskriminierung. Doch sei ihre

Verbindung zugleich durch Rivalität, Polemik und Antagonismus gekennzeichnet.

Dabei steht viel auf dem Spiel: das deutsche und christliche Selbstverständnis,

Positionen zum Rassismus oder auch das Verhältnis zum Judentum. Um diese

verworrene diskursive Landschaft zu kartieren, das zeigte der Gesprächsabend,

müssen die theologischen Wurzeln zeitgenössischer politischer und kultureller

Konflikte freigelegt werden. Darin besteht eines der Hauptanliegen des

interreligiösen Programmes „Kohäsion durch Konflikt“, in dessen Rahmen die

Veranstaltung stattfand.

Gastredner war der Historiker Prof. Dr. Dan Diner, der seinen Impuls unter das

Leitmotiv der „Unterscheidung“ stellte. Zugespitzt formulierte er: „Wenn Churchill

nur ein Rassist war, hat es Hitler nicht gegeben.“ Postkoloniale Bilderstürmerei, die

Churchills Leistung für die Befreiung Europas vom Hitler-Faschismus unterschlägt,

entwertet also grundlegende politische Differenzen. Aus einer

universalgeschichtlichen Position der Distanz wies Diner auf blinde Flecken des

Kolonialdiskurses hin. Wie ist beispielsweise mit dem Osmanischen Reich

umzugehen, das zugleich Vertreter des kolonisierten Orients wie kolonisierender

Eroberer war? Anhand von historischen Konstellationen zeigte Diner, wie

theologische Semantiken für das politische Kraftfeld instrumentalisiert werden. In

der Auseinandersetzung mit dem Holocaust ist hier das Motiv der „Auserwähltheit“

der Juden prominent.

Prof. Dr. Christina von Braun zeichnete unter dem Stichwort der „Verflechtung“

nach, wie etwa nationalsozialistische Kategorien der Reinheit von Blut und Rasse

semantische Vorläufer bei den spanischen Eroberern Lateinamerikas aufweisen.


Prof. Dr. Gregor Maria Hoff stellte das Verhältnis von Postkolonialismus und Anti-

Antisemitismus schließlich in einen aktuellen Kontext. Dazu beleuchtete er als


antisemitisch identifizierte Sprachcodes und Bildprogramme der zurückliegenden

Documenta-Kunstausstellung sowie die umstrittenen Thesen des postkolonialen

Philosophen Achille Mbembe, der Israel als Apartheidsstaat beschreibt.

Unter dem Strich blieb: Generalisierende Alles-mit-allem-Vergleiche verhindern

semantische Genauigkeit und historische Belastbarkeit. Es braucht

Differenzierung – und ein waches Bewusstsein für die theologischen

Unterströmungen politischer Debatten.


Weitere Informationen über das Projekt „Kohäsion durch Konflikt“ und das

Netzwerk „Religion & Demokratie“ finden Sie unten sowie auf der Webseite

Falls Sie Fragen haben, wenden Sie sich gerne an info@bohnen-pa.com.


Das Netzwerk „Religion & Demokratie“

• Katholische Akademie in Berlin

• Dialogperspektiven. Religionen und Weltanschauungen im Gespräch

(Berlin)

• Eugen-Biser-Stiftung (München)

• Zentrum Theologie Interkulturell und Studium der Religionen /

Theologische Fakultät Universität Salzburg


Mission Statement

Das Projekt „Kohäsion durch Konflikt“ widmet sich Religionen als prägenden

Kräften kultureller und normativer (Selbst-)Verständigung. Religionen inspirieren,

indem sie Transzendenzerfahrungen und Sinnerwartungen Raum geben. Sie

irritieren, wo sie in ihrer Eigensinnigkeit gestaltend in die Gesellschaft

hineinwirken und neue Blickwinkel auf öffentliche Belange anregen. Sie entfalten

ihr produktives Potenzial, wenn sie damit Deutungsressourcen freisetzen und

Orientierungsangebote in säkularen Gesellschaften bereitstellen.

Vor diesem Hintergrund fördern wir ein reflektiertes und offenes, Brüche und

Konflikte ausdrücklich anerkennendes Gespräch religiöser Akteur*innen

untereinander und mit ihrer säkularen Umwelt. Ein wichtiger Anlass des

Gespräches ist die wachsende religiös-weltanschauliche Vielfalt. Im Lichte dieser

Entwicklung dient das Projekt einer verständigungsorientierten Aushandlung

widerstreitender Deutungen des guten Lebens, identitätsstiftender

Glaubensansprüche und religionspolitischer Teilhabeforderungen. Konflikt soll als

Medium der Kohäsion fruchtbar werden. Voraussetzung dafür ist die Kultivierung

von Sprachfähigkeit und Streitkompetenz an den Schnittstellen von Religion,

Gesellschaft und Politik. Im Zielhorizont steht ein friedvolles gesellschaftliches

Miteinander.

Das „säkulare Zeitalter“ ist begleitet von einer Wiederentdeckung religiöser

Identitätskonstruktionen, Denkfiguren und Handlungsimpulse. Damit verbunden

sind gesellschaftliche Reibungen. Ein Schlüssel zu deren produktiver Wendung

liegt gerade in der vertieften Auseinandersetzung mit religiösen Traditionen.

Deswegen braucht es vermittelnde Akteur*innen, die alltagsbezogene religiöse

Probleme erkennen und entschärfen können. Im Bewusstsein der Sackgassen

und unbewältigten Konflikte des interreligiösen Dialoges schaffen wir konkrete

Dialogformate, um Vorurteile zu erfassen. Verständigung erwächst aus der Arbeit


an geteilten gesellschaftspolitischen Herausforderungen in unserer säkular-

pluralen Welt. Die Vielfalt religiöser Selbst-, Welt- und Gottesbezüge bedeutet


dabei ein Versprechen; sie vermag den Blick und die Akzeptanz für

gesellschaftliche Differenz zu schulen – und damit die demokratische Kultur zu

stärken.

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