"Worum es geht, ist etwas zutiefst Existenzielles“
Wie lässt sich religiöse und weltanschauliche Vielfalt bearbeiten, um einen produktiven
gesellschaftlichen Zusammenhalt zu ermöglichen? Welche Rahmenbedingungen und
Orte braucht es dafür? Diesen Fragen widmete sich gestern Abend eine
Diskussionsveranstaltung in der Berliner St. Elisabeth Kirche unter dem Titel: „Europäische
Pluralitätskompetenz statt Zusammenhaltsfantasien! Über die Potentiale der Differenz
im Zusammenspiel von Religionen, Weltanschauungen und Gesellschaft“.
Organisatoren waren die Dialogperspektiven. Religionen und Weltanschauungen im
Gespräch und die Eugen-Biser-Stiftung. Als Teil des Netzwerks „Religion & Demokratie“
engagieren sie sich im Programm „Kohäsion durch Konflikt“, das in den drei
Schwerpunktthemen gesellschaftliche Vielfalt, Kultur und politische Bildung inner- und
interreligiöse Bruchlinien beleuchtet. Die Pointe dieses Ansatzes, wie Stefan Zinsmeister
von der Biser-Stiftung in seiner Begrüßung darlegte, bestehe darin, Kohäsion gerade nicht
durch das Aussparen, sondern zivile Austragen von Streit anzustreben. Orientierung biete
der Dreiklang aus Überwältigungsverbot, Kontroversitätsgebot und Subjektorientierung
(Beutelsbacher Konsens). Jo Frank von den Dialogperspektiven betonte, Pluralismus selbst
sei die beste Lösung für den Umgang mit Pluralität. „Differenz ist der Anfang des Gesprächs,
nicht dessen Ende. Wir sollten sie anerkennen, aber aus ihr heraus zueinander kommen,
indem wir unsere Perspektiven erweitern und Wertschätzung gegen Herabsetzung
stellen.“
Wie Pluralitätskompetenz ausgebildet werden könnte, diskutierte anschließend die
Journalistin und Filmemacherin Melina Borčak mit dem Religionsphilosophen und
Islamwissenschaftler Prof. Dr. Ahmad Milad Karimi. Moderiert durch die taz-Redakteurin
Dinah Riese griffen sie zuvor eingereichte Fragen von Teilnehmer*innen und Ehemaligen
der Dialogperspektiven auf. Karimi schlug vor, „Frieden“ als Schulfach zu etablieren – als
eine Kultur der Argumentation gegen den Hass sowie der (spirituellen)
Selbstauseinandersetzung. Mit Verve verteidigte er zudem den bekenntnisorientierten
Unterricht als Chance der Auseinandersetzung mit Religion: „Worum es geht, ist etwas
zutiefst Existenzielles. Dafür gibt es zu wenig Räume in der Gesellschaft.“ Das gelte ebenso
hinsichtlich der Möglichkeiten, atheistische Positionen zu artikulieren und in ein positives
Selbstverständnis zu überführen. Borčak plädierte dafür, den mit Differenz verbundenen
Meinungsstreit stärker auf der materiellen als der symbolischen Ebene zu führen. Auch sich
für Minderheiten einsetzende aktivistische Kreise sollten primär am ideologischen Kern von
Diskriminierung ansetzen und weniger auf Sprachphänomene fokussieren. Des Weiteren
unterstrich sie die Bedeutung des Rechts für die Einhegung von Konflikten, insbesondere
mit Blick auf Genozide in ihren verschiedenen Entwicklungsstufen.
Das Publikum partizipierte durch digitale Live-Abstimmungen zu mehreren Leitfragen
rund um das Verhältnis von pluraler Gesellschaft, Weltanschauung und Religion. Der
Vorher-Nachher-Vergleich legte nahe, dass die Paneldiskussion Unentschiedenheiten
abgemindert und zur Klärung von Positionen beigetragen hatte.
Weitere Informationen über das Projekt „Kohäsion durch Konflikt“ und das Netzwerk
„Religion & Demokratie“ finden Sie unten. Falls Sie Fragen haben, wenden Sie sich gerne an
Das Netzwerk „Religion & Demokratie“
• Katholische Akademie in Berlin
• Dialogperspektiven. Religionen und Weltanschauungen im Gespräch (Berlin)
• Eugen-Biser-Stiftung (München)
• Zentrum Theologie Interkulturell und Studium der Religionen /
Theologische Fakultät Universität Salzburg
Mission Statement
Das Projekt „Kohäsion durch Konflikt“ widmet sich Religionen als prägenden Kräften
kultureller und normativer (Selbst-)Verständigung. Religionen inspirieren, indem sie
Transzendenzerfahrungen und Sinnerwartungen Raum geben. Sie irritieren, wo sie in
ihrer Eigensinnigkeit gestaltend in die Gesellschaft hineinwirken und neue Blickwinkel auf
öffentliche Belange anregen. Sie entfalten ihr produktives Potenzial, wenn sie damit
Deutungsressourcen freisetzen und Orientierungsangebote in säkularen Gesellschaften
bereitstellen.
Vor diesem Hintergrund fördern wir ein reflektiertes und offenes, Brüche und Konflikte
ausdrücklich anerkennendes Gespräch religiöser Akteur*innen untereinander und mit
ihrer säkularen Umwelt. Ein wichtiger Anlass des Gespräches ist die wachsende religiös-
weltanschauliche Vielfalt. Im Lichte dieser Entwicklung dient das Projekt einer
verständigungsorientierten Aushandlung widerstreitender Deutungen des guten Lebens,
identitätsstiftender Glaubensansprüche und religionspolitischer Teilhabeforderungen.
Konflikt soll als Medium der Kohäsion fruchtbar werden. Voraussetzung dafür ist die
Kultivierung von Sprachfähigkeit und Streitkompetenz an den Schnittstellen von Religion,
Gesellschaft und Politik. Im Zielhorizont steht ein friedvolles gesellschaftliches
Miteinander.
Das „säkulare Zeitalter“ ist begleitet von einer Wiederentdeckung religiöser
Identitätskonstruktionen, Denkfiguren und Handlungsimpulse. Damit verbunden sind
gesellschaftliche Reibungen. Ein Schlüssel zu deren produktiver Wendung liegt gerade in
der vertieften Auseinandersetzung mit religiösen Traditionen. Deswegen braucht es
vermittelnde Akteur*innen, die alltagsbezogene religiöse Probleme erkennen und
entschärfen können. Im Bewusstsein der Sackgassen und unbewältigten Konflikte des
interreligiösen Dialoges schaffen wir konkrete Dialogformate, um Vorurteile zu erfassen.
Verständigung erwächst aus der Arbeit an geteilten gesellschaftspolitischen
Herausforderungen in unserer säkular-pluralen Welt. Die Vielfalt religiöser Selbst-, Welt-
und Gottesbezüge bedeutet dabei ein Versprechen; sie vermag den Blick und die
Akzeptanz für gesellschaftliche Differenz zu schulen – und damit die demokratische
Kultur zu stärken.
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