Am 09.10.2023 fand im Rahmen unseres interreligiösen Programms „Kohäsion durch Konflikt“ ein weiteres virtuelles Werkstattgespräch statt. Frau Christina Sawatzki, Studienleiterin für Theologie und interreligiösen Dialog an der Evangelischen Akademie zu Berlin, gab Impulse zum Thema „Kulturelle Identität Europas? Die Frage nach der Religion als kulturprägender Kraft“.
Weder der EU-Binnenmarkt noch die „kulturlose Kultur“ eines Verfassungspatriotismus, so Sawatzki, reichten für eine gehaltvolle europäische Identitätsbildung aus. Religionen könnten hier einen wertvollen Beitrag leisten. Allerdings zeigten nicht zuletzt die grundlegenden Verträge der EU, dass sie sich im Umgang mit Religion schwertue - nicht zuletzt, um religiöse Konfliktherde für das säkulare Staatswesen zu vermeiden und eine Offenheit zur Partizipation zu gewähren. Durch diese Leerstelle bleibe indes das Integrationspotenzial der Religionen ungenutzt. Religion würde gerade in Europa mehr als Stör- denn als Kohäsionsfaktor wahrgenommen.
Nötig sei laut Frau Sawatzki auch das Aufbrechen der monistischen Wahrnehmung von Religion und Christentum in Europa als deckungsgleich mit den institutionalisierten Kirchen. Bisheriges „Blockdenken“ sei nicht nur im Dialog der Religionen hinderlich. Vielmehr könne die Wahrnehmung innerchristlicher Differenz und Pluralität helfen, das öffentliche Bewusstsein für den religiösen Pluralismus der Gegenwart zu schärfen. In diesem Kontext kam auch die Debatte über die schwierige Stellung des Islams in Europa zur Sprache. Hier hob Frau Sawatzki die Relevanz der Unterscheidung von Religion und Kultur hervor, um Komplexitätsreduktionen und fundamentalistische Vermischungen zu verhindern. Die Möglichkeit der vollständigen Trennung von Religion und Kultur stellte sie indes ebenso in Frage wie jene von Politik und Kultur im Rahmen verfassungspatriotischer Konzepte.
Angesichts der wiederkehrenden monolithischen Inanspruchnahme der Nation als Identitätsquelle setzten sich die rund 20 Teilnehmer auch mit der Rolle der Religion als produktivem Desintegrationsfaktor auseinander. Vielfältige Religionsnarrative könnten in einen Diskurszusammenhang über Europa als historisch, geografisch und politisch offenes Konstrukt einspielen, das weniger eine Identität als Identifikationsangebote biete. Eine reflektierte Auseinandersetzung mit Religionen im öffentlichen Raum begrüßte Frau Sawatzki mit dem Hinweis auf die negativen Effekte, die mit der Desozialisierung beziehungsweise Privatisierung von Religion einhergehen könnten, erkennbar nicht zuletzt an der zunehmend relevanten fundamentalistischen Instrumentalisierung einer „virtuellen Umma“. Neben Religion als historischem Erbe und institutionalisierter Organisation komme es auch auf gelebte Religiosität als praktischen Glaubensvollzug an. Letztlich gelte es, so Sawatzki, religiöse Sprachfähigkeit neu einzuüben, um so zu einem reicheren europäischen Kulturbegriff zu gelangen.
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