Unter Moderation von Dr. Gesine Palmer (Katholische Akademie in Berlin) diskutierten die Partner des Programmes "Kohäsion durch Konflikt" am 23.11.2022 in einem virtuellen Werkstattgespräch das Verhältnis von Religion und Demokratie. Als Gesprächspartner waren die GIZ-Beraterin Britta Petersen und der Theologieprofessor Markus Vogt geladen.
Frau Petersen unterstrich die Relevanz der Ausgangsfrage durch eine Zahl: Über 80% der Weltbevölkerung seien religiös affiliiert, die demokratischen Implikationen von Glaubensüberzeugungen daher entscheidend. Dabei gehe es etwa um rationale Lebensführung mit Blick auf Corona-Impfungen, Schöpfungsverantwortung bzw. Umweltschutz oder auch Widerstand gegen metaphysische Rechtfertigungen eines Angriffskrieges. Der russische Patriarch Kyrill markiere in dieser Hinsicht einen "Tiefpunkt der Christengeschichte".
Prof. Vogt plädierte daran anschließend dafür, dass liberale Religionsakteure in eine "produktive Konkurrenz" zu gewaltvollen Instrumentalisierungen naturgemäß interpretationsoffener Glaubenssysteme treten. Die Praxis sei hier häufig besser als die Theorie. Kirchen leisteten mit ihrer Vor-Ort-Verankerung wichtige Versöhnungs- und Verständigungsarbeit im zivilgesellschaftlichen Bereich. Kritische Theologie wiederum müsse den Anspruch der "Distanz zur Macht" verfolgen. Letztlich brauche es die Anwendung des Demokratieprinzips auf die Religion selbst, resümierte Vogt. Religionen verfügten über einen reichen Schatz, die Andersartigkeit der anderen anzuerkennen und eine fruchtbare Konfliktkultur zu fördern. Denn "erst am Du wird das Ich zum Ich".
MEHR INFOS:
Unten finden Sie einen kurzen Auszug aus Prof. Vogts aktueller Publikation "Der Ukrainekrieg als Herausforderung zur Weitentwicklung christlicher Friedensethik" (erschienen in Zebis). Den vollständigen Artikel - wie auch weitere Hintergründe zum Thema - stellen wir Ihnen in der Rubrik "Literatur" zur Verfügung.
Horizonterweiterung durch das Paradigma des „Gerechten Friedens“
Lange wurde christliche Friedensethik unter der von Augustinus geprägten Überschrift „Gerechter Krieg“ diskutiert. Seit gut zwanzig Jahren hat sich der Terminus „Gerechter Friede“ als Leitgedanke etabliert. Dabei geht es nicht einfach um ein pazifistisches Gegenmodell, sondern um eine Horizonterweiterung im Blick auf die vielschichtigen Voraussetzungen des Friedens und die Notwenigkeit, diesen auf allen Ebenen anzustreben. „Gerechter Friede“ nimmt die Vielfalt und Vernetzung von militärischen, diplomatischen und zivilgesellschaftlichen Arenen des Ringens um Frieden, Freiheit und Sicherheit in den Blick. Am Beispiel des Afghanistankonfliktes wurde exemplarisch deutlich, dass die westlichen Mächte zwar stark mit Waffen ausgestattet sind, es aber erheblich an einer Professionalisierung der zivilgesellschaftlichen Konfliktbewältigung fehlt, um dauerhaft Frieden zu gewährleisten. Mit Waffen allein kann man einen Krieg, aber niemals den Frieden gewinnen.
Gerechter Friede setzt auf die wache und frühzeitige Benennung von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Er impliziert Bildung zum Widerstand gegen Ideologien, repressive Politikformen und Ausgrenzung. Eine akute Herausforderung ist für ihn die Manipulation der öffentlichen Meinung in den digitalen Medien, in deren Schatten sich nationalistisch-aggressive Denkmuster ausbreiten. Die Akteur:innen des gerechten Friedens treten generalisierenden Feindbildern entgegen und suchen immer wieder neu über die Grenzen von Nationen, Kulturen, Religionen und sozialen Schichten hinweg die Kraft der Versöhnung. Sie begreifen Völkerverständigung als eine Herausforderung, die heute zunehmend auch Entwicklungs-, Klima- und Migrationspolitik einschließt. Bei all dem wird Friede wird [sic!] nicht als Abwesenheit von Gewalt definiert, sondern vielmehr als primäre Kategorie verstanden, als eine auf die Humanisierung der Verhältnisse hinwirkende geistige Macht, was man mit Eugen Biser als „Inversion“ der Fragestellung auffassen kann.
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