“Kampf um Land und religiöse Deutungshoheit – Nachwirkungen des 7. Oktober in der europäischen Debatte“: Unter diesem Titel setzte das interreligiöse Programm „Kohäsion durch Konflikt“ im neuen Jahr 2024 seine Reihe virtueller Werkstattgespräche mit profilierten Religionsexperten fort. Gast war diesmal Pater Dr. Christian Rutishauser SJ, Delegat für Hochschulen der Zentraleuropäischen Provinz der Jesuiten und international anerkannte Kapazität im jüdisch-christlichen Dialog. Verhandelt wurden die hiesigen Rezeptionsschleifen des Hamas-Terrors gegen Israel und des nachfolgenden Krieges in Gaza. Moderator und Programmpartner Prof. Dr. Gregor Maria Hoff sprach angesichts der Bedrohung jüdischen Lebens in Deutschland, der Neukonstellierung des jüdisch-christlichen Dialoges und der Notwendigkeit einer Theologie des Landes Israel eingangs von einer „zeittheologischen Punktlandung“ bei der Wahl des Gesprächsthemas.
Pater Rutishauser griff die Vorlage auf und präsentierte pointierte Thesen in drei Themenfeldern. Mit Blick auf die Debatte zu den Vorgängen diagnostizierte er erstens sich überlagernde und den Nahostkonflikt überschreitende Deutungshorizonte und Verstehensmomente. So ziele der islamistische Fundamentalismus der Hamas auf die Zerstörung des zionistischen Projektes und reaktiviere damit das Trauma der Shoa und weiterer antijüdischer Pogrome der europäischen Geschichte. Der darin wiederklingende rechte Antisemitismus konvergiere nun mit einem linken Antisemitismus postkolonialer Provenienz, der freilich die historische Entstehung der Ordnung im Nahen Osten verkenne, insofern auch Israels Nachbarn Syrien, Libanon und Jordanien „Kolonialprojekte“ darstellten.
Da „das Judentum kein Fremdkörper im Land der Bibel“ sei, brauche es zweitens eine Theologie des Landes Israel. Statt sie ethnozentrisch auf „Blut und Boden“ zu stützen, müsse sie allerdings diasporische Elemente aufnehmen und jenseits eschatologisch-messianischer Kategorien operieren. Dazu gelte es, mit antizionistischen rabbinischen Traditionen, aber etwa auch mit der christlichen Soziallehre ins Gespräch zu kommen.
Drittens beleuchtete Pater Rutishauser die Konsequenzen für den jüdisch-christlichen Dialog im Zeichen der Bekämpfung des Antisemitismus. Dieser wandele sich „wie ein Chamäleon“, wobei der Shoa-Bezug schwinde und der Fokus stattdessen auf die politische Situation in Israel und im Nahen Osten gelenkt werde. Kurz: „Die Judenfrage stellt sich neu – nicht europäisch, sondern global.“ Ob das Christentum hinsichtlich des auf die Probe gestellten jüdisch-muslimischen Dialoges eine vermittelnde Rolle einnehmen könne, bleibe indes fraglich.
Zur Diskussionseröffnung unterstützte Pater Rutishauser die Utopie einer Einstaatenlösung. In Abgrenzung zum homogenen Nationalstaat votierte er für einen verschiedene Gruppen integrierenden Rechtsstaat, der Religion gleichwohl nicht ins Private verdränge, sondern öffentlich Raum gebe. Denkbar seien vier größere Einheiten oder „Kantone“: die palästinensischen Gebiete Gaza und Westbank sowie ein religiöser und ein säkularer israelischer Teil.
Im Gespräch mit den Teilnehmenden wurde das Versäumnis des Vatikans markiert, klar und differenziert zu „10/7“ Stellung zu nehmen. So sei ein konkreter Gewaltakt mit allgemeinen Begriffen bemäntelt worden, während eine Einordnung als Pogrom umgekehrt Räume für eine Kritik des israelischen Vorgehens hätte eröffnen können. Im Ergebnis sei nun eine „Krise des jüdisch-christlichen Dialogs“ zu verzeichnen.
Kritisch wurde zudem nachgefragt, ob die Lehre aus religiös grundierter Gewalt nicht doch darin bestehen müsse, Politik und Staat weiter zu säkularisieren. Ausgehend vom späten Habermas fand sich das Gegenargument, dass nicht oder nur ungenügend behandelte Religion in extremistischer Zerrform wiederkehre. Um dies zu verhindern, spiele die zwischen großer Politik und familiärer Stammeslogik verortete Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle.
Konturiert wurde auf diesem Wege das Bild eines anhaltend prekären Verhältnisses von Religion und Demokratie. Das zeige sich beispielhaft im unsicheren Umgang mit dem Islam, der uns gleichsam stellvertretend herausfordere, Religionen auch als Träger politischer Geltungsansprüche zu denken. Diese Geltungsansprüche seien nicht mit dem pauschalen Verweis auf die undemokratische Verfasstheit von Religionsgemeinschaften als illegitim abzuqualifizieren – dafür brauche es inhaltliche anstelle formaler Argumente.
Für eine konstruktive Bearbeitung solcher Spannungsfelder empfahl Pater Rutishauser abschließend Bildungsinitiativen sowie den Austausch mit Multiplikatoren, politischen Verantwortlichen und religiösen Autoritäten. Daneben blieb seine „provokative Vision“ einer Einstaatenlösung – deren Bewährungsprobe freilich ebenso jenseits ihres formalen Vollzugs in der erfolgreichen Bearbeitung der beschriebenen inhaltlichen Konflikte läge.
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